In der fünften Klasse Volksschule haben wir damals ein Projekt zum Thema Menschenwürde gemacht, das mich sehr beeindruckt hat, weil wir Worte und Bilder gefunden haben für etwas, was man nicht mit den Augen sehen kann. Würde wird nur indirekt sichtbar, in Körperhaltungen, Handlungen oder der Art und Weise der Kommunikation. Würde ist ein Geschenk der Natur, alles Natürliche lebt, bewegt sich und interagiert würdevoll – weil alles Natürliche verbunden ist.

Der Mensch hat durch seine Kulturen die Möglichkeit, sich von seiner Würde zu trennen, indem er sich von seiner wahren Natur – eine Schöpfung der Natur, ein Kind dieser Erde zu sein – trennt. Würde ist die Qualität der menschlichen Seele. Diese braucht einen Raum von Respekt und Wertschätzung, um sich entfalten zu können. Dann können Seelenkräfte wirksam werden und heilen, den Mensch und sein Schicksal versöhnen, Körper und Geist verbinden, Natur und Kultur verbinden.

Einen solchen Raum – man kann es auch ein Feld nennen – von Respekt und Wertschätzung zu schaffen, setzt einen starken Willen, viel Kraft und Erfahrung und vor allem eine unbedingte Kommunikation mit der eigenen Seele voraus. Es ist im Wesentlichen ein unsichtbarer Raum, zwischen Mensch und Natur, zwischen zwei oder mehreren Menschen. Es gibt Umgebungen, in denen es leichter ist, dieses Feld zu öffnen, und es gibt Umfelder, die es fast unmöglich machen.

Die Entwicklung des „Medizinbetriebes“ in den letzten Jahrzehnten, insbesondere die Ökonomisierung der Krankenhausleistungen, der „Machbarkeitswahn“ einer hochtechnischen Medizin, die Ausgrenzung von Verfall, Siechtum und Tod als Teil der menschlichen Existenz und die Vernachlässigung seelischer Qualitäten in der Ausbildung und Erziehung junger Ärzte haben ein sehr angespanntes Klima geschaffen.So ist der Raum der „Modernen Medizin“ entstanden, in dem Patienten Kostenträger und Teile großer Statistiken wurden, zu Objekten wurden, die ihre Subjektivität verloren haben – in dem sie aber hocheffizient dem wahrscheinlichst positivsten Resultat zugeführt werden.

Ein einzelner Arzt, eine einzelne Ärztin wird es fast nicht schaffen, in diesem Umfeld den Raum von Würde, Respekt und Wertschätzung zu öffnen und zu halten. Dort, wo es noch immer gelingt, ist es immer die gemeinschaftliche Leistung vieler, die sich innerlich auf die Seele ausgerichtet haben.

Wenn ich im Dienst zu einem Patienten gerufen werde, begegnet mir all das in Bruchteilen von Sekunden. Ein alter Mann blickt mich flehentlich aus den Tiefen seines Krankenbettes an, ihn aus diesem Zustand zu erlösen. Bitte schnell. Innerlich höre ich die Stimmen seiner Angehörigen, vielleicht sogar gemischt mit dem Gemurmel ihrer Anwälte. Die Akte zählt mir eine schier nicht enden wollende Phallanx der abstrusesten Medikamentennamen auf, deren Interaktionen ich mir wohl nicht einmal in einem ganzen Tag intensiven Studiums erarbeiten könnte. Das Pflegepersonal wartet auf klare Anweisungen zu konkreten Handlungen, die den Normalbetrieb baldmöglichst wieder herstellen – schließlich gibt es noch viele andere Patienten, die unter Umständen ähnlich nah an der Grenze zur Dekompensation in ihren Zimmern liegen.

Oft sind gerade diese Patienten schon seit Jahren durch die Mangel des Systems gedreht worden, viele von ihnen sind traumatisiert durch schwere Eingriffe und durch Hospitalisierung in ihrem Selbstbild schwer angeschlagen. Sie sind gefangen in demselben Geflecht wie ihre Ärzte und die Krankenhausleitungen, fremdbestimmt in einem Netz aus Leitlinien, Qualitätsstandards, Medizincontrollern, unbewußten Ängsten und oft völlig undefinierten Heilsvorstellungen. Sie und ihre Angehörigen sind müde und halten oft nur noch verzweifelt an einem Leben fest, das in seiner Qualität als solches manchmal nicht mehr zu bezeichnen ist.

An dieser Stelle muss ich mich bei meinen Lesern – die es überhaupt bis hierher durchgehalten haben – für diese drastischen Darstellungen entschuldigen. Doch leider sind sie nicht aus der Luft gegriffen. Die Wucht genau dieser Umstände ist es, die mir immer wieder die Tränen in die Augen treibt.

Wie schaffe ich in einer solchen Situation einen Raum von Respekt und Würde? Es ist fast nicht möglich! Ich kann warmherzig sprechen, über die Hand einen ermutigenden Kontakt herstellen und versuchen, das minimalst nötige an Intervention zu finden und umzusetzen.

Oder ich erlaube mir, aus dem Raum der „Modernen Medizin“ hinaus zu treten, die Kontrolle von Parametern, das Hinausschieben eines eventuellen Todes aufzugeben. Den Kranken in den Raum seiner Natürlichkeit zurückzuführen? Wie schaffe ich das? Wie kann das überhaupt jemand schaffen? Wenn wir den Raum von Respekt und Würde verlassen oder verloren haben, den Raum unserer natürlichen Verbundenheit, unseren Seelenraum – wie können wir dann dorthin zurück finden?

Die Antwort werden wir nicht in unserer Kultur finden. Wir sollten sie dort suchen, wo die Menschen noch Anschluss zu einem alten Wissen haben, zu den „ursprünglichen Samen der Menschheit“.

Eigentlich würde ich diesen Blog lieber nicht schreiben. Ich würde viel lieber weiterhin glauben, dass unsere moderne Medizin – an der ich täglich teil habe – wirklich die Segnung ist, die sie zu sein vorgibt. Eigentlich würde ich viel lieber Teil des „Systems“ bleiben und still meine Arbeit machen.

Und ohne Frage bin ich diesem „System“ dankbar, denn sein Potential für Akutbehandlungen hat meiner Familie viel Kummer erspart.

Dennoch weine ich in den letzten Monaten gelegentlich, wenn ich zum Dienst fahre. Ich fühle mich leer und eigentlich hilflos, denn ich bin weit davon entfernt, dass zu tun, wozu ich eines Tages eigentlich zum Medizinstudium angetreten bin. So albern und naiv es vielleicht klingen mag, aber ich wollte lernen, wie ich Menschen heilen kann. Nach dem Studium habe ich nach Versuchen in der Neurochirurgie, der Onkologie und Kinderonkologie den Weg der Psychosomatik und Naturheilkunde gewählt, um dieser Idee so nah wie möglich zu kommen. Ich habe sicher gelernt, so manche Leiden zu lindern – mit Hilfe der Natur und auch mit Hilfe moderner Medikamente. Mit Hilfe des ernsthaften und mitfühlenden Gespräches…

Aber geheilt habe ich wohl noch nicht einen einzigen Menschen – auch wenn ich schon seit zehn Jahren „im Geschäft“ bin. Ich habe viel über Diagnostik gelernt, aber konnte mich nie wirklich mit den Therapieangeboten anfreunden. Mir sind unglaublich viele tolle Menschen begegnet, Patienten, Kollegen, Angehörige – und ich habe von ihnen so viel über unser Leben als Menschen gelernt, so viel über die Segnungen und Katastrophen des Medizinbetriebes und ihre weitreichenden Konsequenzen für das Leben jedes einzelnen dieser Menschen erfahren.

Und ich bin sicher, die momentan größte Herausforderung für uns Ärzte liegt darin, unseren Patienten nicht zu sehr zu schaden und den Blick für das Wesentliche zu behalten. Gleichzeitig sehe ich das medial ungeheuer aufgeladene Spannungsfeld zwischen Allmachtsphantasien und Ohnmacht, in dem ich als Mensch und Arzt selbst navigieren muss und meinen Patienten ein Begleiter und Wegweiser sein soll. Diese Herausforderungen lassen sich für mich nicht mehr mit dem routinierten Blick durch die Brille einer fortschrittsgläubigen, wissenschaftlich-medizinischen Weltsicht meistern. Sie lassen sich aber auch nicht mehr mit der Brille der sogenannten Alternativmedizin, egal welcher Couleur, meistern, denn diese ist mittlerweile ähnlich kommerzialisiert. Ich möchte beginnen, die Stimme meiner Seele und das Wissen meines Körpers ernst zu nehmen und alle Brillen ablegen, alle bisherigen Denk- und Wahrnehmungskathegorien in Frage stellen und mich für neue, andere Ansichten bereit machen. Diese Bereitschaft begleitet mich schon lange, doch mit jeder Krise, durch die ich gehe, wird der Drang zu konkret anderem Handeln stärker und schwieriger zu kontrollieren. Seit dem Studium gerate ich immer wieder an den Punkt, an dem ich den Weg des Arztes verlassen möchte – und doch habe ich mich immer wieder darauf zurückgezwungen, um meinem Gefühl gerecht zu werden, einer inneren Bestimmung zu folgen.

Indem ich jetzt beginne, öffentlich darüber zu schreiben, möchte ich meine Krise mit der Welt „außerhalb des Systems“ teilen und Gehör finden und wissen, dass ich nicht alleine bin.

Ich wünsche mir eine Neue Zeit für die Heilkunde und die Heilkundigen, gespeist aus einem tiefen Respekt vor dem Mysterium des Lebens und dem Wunder seiner Endlichkeit. Genährt von der höchsten Achtung vor dieser seltsamen und wundersamen Kraft, die in all ihrer Bescheidenheit schon mein Leben lang meine Wunden heilt, ohne dass ich wirklich etwas dazu beitrage.